1988 - Neujahrsansprache von Bundespräsident Otto Stich

1. Januar 1988 - Es gilt das gesprochene Wort

Der Beginn eines neuen Jahres ist für viele Mitmenschen eine Zeit der Standortbestimmung, des Nachdenkens, der Besinnung, aber ebenso eine Zeit der Erwartungen, der Hoffnungen, von Vorsätzen, Plänen und natürlich auch von Wünschen. Lassen Sie mich im Namen des Bundesrates Ihnen allen ein gutes neues Jahr wünschen. Gute Wünsche können wir alle gebrauchen. Ganz besonders aber jene, die vielleicht mit Besorgnis uns Skepsis in die Zukunft blicken. Ich denke an die Kranken, Gebrechlichen, Behinderten, an die Betagten und all diejenigen, die aus mancherlei Gründen nicht an unserem Wohlstand teilhaben.

Ich denke dabei an jene, die ihren Arbeitsplatz verloren oder noch keinen Arbeitsplatz gefunden haben, die Opfer von Umstrukturierung in der Industrie geworden sind, deren Fachwissen nicht mehr gefragt ist. In Gedanken bin ich aber auch bei jenen unter uns, die um liebe, nahe Menschen zu trauern haben; und bei jenen, die mit scheinbar unüberwindlichen Schwierigkeiten kämpfen und noch keine Lösung dafür fanden. Ihnen allen wünsche ich für das neue Jahr Mut und Zuversicht, Gesundheit, neue Aussichten und Möglichkeiten auf eine Verbesserung ihres Loses. Das gilt auch für die Jugend unseres Landes, die es in vielen Dingen schwerer hat als frühere Generationen, auch wenn dabei nicht mehr die materielle Not im Vordergrund steht. Viel mehr muss sie mit einem immer rascheren Wandel, mit einer ungeheuren Fülle von Informationen und Nachrichten fertig werden, ohne sich dabei auf Lebenserfahrung stützen zu können. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass der Dialog zwischen und die Solidarität unter den Generationen verstärkt werden kann. Für das neue Jahr wünsche ich mir, dass diese wichtigen Voraussetzungen für das Zusammenleben einer Gesellschaft verbessert werden können, dass anstelle von Verständnislosigkeit das Gespräch und der Verständigungswille tritt. Unser Land hat im vergangenen Jahr ein neues Parlament gewählt. Dieses wird im kommenden Jahr wichtige politische Weichenstellungen vorzunehmen haben. Ich denke unter anderem an die Ziele, die in der Umweltschutzgesetzgebung formuliert worden sind und die jetzt in die Tat umgesetzt werden müssen. Ich denke an die Sicherung unserer Sozialwerke für die Zukunft. Mit der vorläufigen Sanierung unseres Bundeshaushaltes haben wir wieder etwas mehr politischen Gestaltungsraum geschaffen. Aber die Einbrüche in die Stabilität der internationalen Währungs- und Finanzlage haben viele Menschen erschreckt und haben Zweifel aufkommen lassen an der wirtschaftlichen Sicherheit unserer Zukunft. Gerade diese Erfahrung zeigt deutlich, wie notwendig die internationale Zusammenarbeit ist, um die wirtschaftliche und monetäre Stabilität zu verbessern. Der Bundesrat verfolgt aufmerksam die weitere Entwicklung und prüft sorgfältig, welche Konsequenzen allfällig zu ziehen sind. Blicken wir über die Landesgrenzen hinaus, so dürfen wir mit Genugtuung feststellen, dass aus dem zähen Dialog der Supermächte inzwischen mehr Substanz zustande gekommen ist als noch vor einem Jahr erwartet werden konnte. Die Politik der Friedenssicherung - das darf bei aller gebotenen Skepsis und Vorsicht gesagt werden - hat einen ermutigenden Schritt nach vorne vollbracht. Diese Politik übersteigt den Einflussbereich unseres kleinen Landes. Aber wir können einen Beitrag dazu leisten, wenn wir entschlossen mithelfen, das gewaltige Ungleichgewicht zwischen dem armen Süden und dem reichen Norden zu verringern, mit dem Ziel, dereinst mehr Gerechtigkeit und Freiheit in den zu kurz gekommenen Regionen der Welt zu schaffen: Freiheit von Hunger, Not und Elend. Dabei müssen wir aber auch daran denken, dass in unserem Land viele Menschen aus anderen Gegenden der Welt, mit andern Gewohnheiten und Erwartungen leben. Viele von ihnen sind nicht freiwillig gekommen, sondern aus materieller Not oder Krieg aus ihren Heimatländern vertrieben worden. Auch ihnen muss das Gespräch gehören; auch sie sollten wir in unsere Gemeinschaft einschliessen, selbst dann, wenn dies mit Schwierigkeiten verbunden ist.

Friedensfähig sind wir aber nur dann, wenn wir im Innern unseres Landes Frieden halten können. Dafür ist der von gutem Willen getragene Dialog zwischen den Wirtschaftspartnern, den Gewerkschaften und Berufsverbänden auf der einen, den Unternehmern und ihren Organisationen auf der andern Seite unabdingbare Voraussetzung. Friedensfähigkeit im Innern des Landes bedeutet aber auch, dass wir imstande sind, unsere Jugend auszubilden, ihnen Lehrstellen und Studienplätze zur Verfügung halten können. Und dies heisst schliesslich auch, dass wir die Verständigung unter unseren vier Kulturkreisen pflegen und fördern. Wir soliden die grosse politische Leistung, trotz der Vielfalt der Sprachen, Mentalitäten, Kulturen und Einstellungen eine staatliche Gemeinschaft mehr als ein Jahrhundert erhalten und entwickelt zu haben, nicht gering achten. Die wesentlichste Voraussetzung dafür, dass dies auch weiterhin möglich ist, scheint mir zu sein, dass der einzelne nicht fragt, was der Staat für ihn tun könne, sondern dass er fragt, was er, Frau oder Mann, für diesen Staat tun könne. Ich bin der festen Überzeugung, dass sich mit einer solchen Einstellung die grossen Herausforderungen der Zukunft besser meistern lassen als mit einer rein passiven Erwartungshaltung ohne eigenen Gestaltungsbeitrag.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger

So wünsche ich Ihnen allen ein frohes und gesegnetes neues Jahr 1988 und viel Mut und Kraft.

Letzte Änderung 01.12.2015

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