1999 - Ansprache von Bundespräsidentin Ruth Dreifuss zum Nationalfeiertag

1. August 1999 - Es gilt das gesprochene Wort

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, guten Tag

Die Nationalfeier 1999 ruft uns auf, Rückschau zu halten auf das Jahrhundert, das nun zu Ende geht, und uns Rechenschaft darüber zu geben, was wir daraus gemacht haben. Die Welt hat sich in rasantem Tempo verändert, unsere Gesellschaft hat sich von Grund auf gewandelt; unsere Aufgabe ist es nun, uns darüber Gedanken zu machen, wie wir uns im nächsten Jahrhundert als Schweizerinnen und Schweizer verstehen wollen.

Das zwanzigste Jahrhundert war durch das Bemühen geprägt, eine solidarische Gesellschaft zu schaffen, in der jede und jeder sich durch die Gemeinschaft gestützt fühlt. Immer und immer wieder wurden diese Anstrengungen aufgenommen und weiter getrieben. Manches gelang nicht beim ersten Anlauf. Oft musste das Werkstück nochmals zurück auf die Werkbank; aber auch in den härtesten Zeiten blieb der Wille zum sozialen Fortschritt bestehen. Wollen wir nun heute dieses Ideal aufgeben, ausgerechnet in einer Zeit, da wir mit neuen Problemen konfrontiert sind: mit jenen der jungen Familien, deren Sorgen vor jedem Monatsende anwachsen, mit der Einsamkeit der Betagten, mit den Schwierigkeiten des Zusammenlebens zwischen Schweizern und Ausländern und mit dem Elend in der Dritten Welt?

Wir können die Gestaltung unserer Zukunft nicht darauf beschränken, nur zu bewahren, was unsere Vorfahren geschaffen haben. Wir müssen uns damit auseinandersetzen, dass die sozialen Bindungen schwächer werden. Und wir müssen eine Antwort darauf finden. In Zeiten der Armut haben wir uns die Devise gegeben: „Einer für alle, alle für einen„. Es kann nicht sein, dass wir diesen Grundsatz aufgeben in einer Zeit, da die Schweiz - dank des Fleisses ihrer Einwohner und dank der Erfindungsgabe ihrer Unternehmer - eines der reichsten Länder der Erde geworden ist.

Das zwanzigste Jahrhundert war auch durch den Willen geprägt, unsere Demokratie und die Achtung der Minderheiten zu stärken. Der Erfolg der Schweiz beruht, wie wir wissen, auf der Vielfalt unserer Bevölkerung, auf der Verschiedenheit unserer Kulturen und unserer Sprachen. Wir wissen, dass unser Land seine Stabilität und seine Problemlösungsfähigkeit der Tatsache verdankt, dass alle Denkrichtungen, alle Vereinigungen und alle Interessengruppen an den Entscheidungen mitwirken. Wenn wir diese politische Kultur in Frage stellen wollten, wenn wir die Diskussion durch das Recht des Stärkeren, den Wettbewerb der Ideen durch Alleinvertretungsansprüche ersetzen wollten, dann würden wir auch die Grundlagen dafür gefährden, dass wir alle von Genf bis Romanshorn, von Basel bis Chiasso auf unsere besondere Art Schweizer sein können.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Europa die dominierende Kraft in der Welt, und unser Land war als einer von vielen souveränen Staaten ein fester Teil davon, auch wenn es sich von den Allianzen fernhielt. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als Europa versuchte sich einzurichten zwischen den beiden Supermächten, die es zerrissen, konnte unser Land noch zurückgezogen und für sich allein leben. Jetzt gibt es auf dieser Welt nur noch eine Supermacht, und das ist nicht Europa. Gleichzeitig erweitert und vertieft sich aber die Union, welche die Staaten Europas vereint. Und unser Land, das heute nicht mehr im gleichen Masse an Europa beteiligt ist wie früher, läuft Gefahr, in unserem Kontinent und der ganzen Erde isoliert zu werden. Wir sind also aufgerufen, über die bilateralen Verträge und die gutnachbarschaftlichen Beziehungen hinaus unser Verhältnis zu Europa und zur Welt neu zu definieren. Es gibt für uns einen Platz darin. Es ist an uns, diesen Platz mit Mut, Phantasie und Grosszügigkeit auszufüllen. Ich wünsche Ihnen eine schone Nationalfeier.

Download Nationalfeiertag 1999 (MP3, 820 kB, 15.09.2014)

Letzte Änderung 30.11.2015

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