Schweiz-EU: Bilateralen Weg stabilisieren und weiterentwickeln

Zurigo, 16.10.2024 - Rede von Bundesrat Beat Jans an der Universität Zürich

Es gilt das gesprochene Wort.

 

Sehr geehrte Damen und Herren
Liebe Studierende

In den Sommerferien war ich in Kroatien, Italien - und in der NZZ.

Was habe ich in meinem Gastbeitrag geschrieben? Ich habe darauf hingewiesen, dass die Schweiz mitten in Europa liegt. Und dass es - weil wir von Europa umgeben sind - durchaus in unserem Interesse sein könnte, geregelte und freund-nachbarschaftliche Beziehungen zu diesem Europa zu unterhalten und zu pflegen. Zudem habe ich daran erinnert, dass die Europäische Integration unserem Kontinent 70 Jahre des Friedens und der Stabilität gebracht hat. Dass wir eine Wertegemeinschaft sind, die von Russland angegriffen wird. Europa ist zusammengerückt und wir gehören wir dazu, das spüren wir.

Das allein ist natürlich noch nicht Grund genug, den bilateralen Weg mit der EU zu stabilisieren und weiterzuentwickeln, aber eine gute Ausgangslage. Wir müssen uns dabei drei Fragen stellen:

  • Erstens: Braucht die Schweiz stabile Beziehungen zur EU?
  • Zweitens: Welche Ziele wollen wir erreichen?
  • Drittens: Entspricht das Ausgehandelte diesen Zielen?

Die erste Frage hat der Bundesrat mit dem Verhandlungsmandat, das er im März verabschiedet hat, klar beantwortet: Ja, wir wollen und brauchen stabile Beziehungen zu unseren wichtigsten Partnern, der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten. Erst recht in der aktuellen geopolitischen Lage. Auch auf die zweite Frage - was wollen wir mit dem neuen Vertragswerk erreichen - hat der Bundesrat klare Antworten:

  • Die Schweiz will den reibungslosen Zugang ihrer Unternehmen zum EU-Binnenmarkt sichern und ein Mitspracherecht bei der Gestaltung neuer Binnenmarktregeln haben.
  • Die Schweiz und die EU sollen Konflikte rechtsgültig lösen können. Das erhöht die Rechtssicherheit und verhindert willkürliche Vergeltungsmassnahmen.
  • Die Schweiz will neue bilaterale Abkommen abschliessen können, zum Beispiel zur Stärkung der Stromversorgung. Und wir wollen in den Bereichen Bildung, Forschung, Innovation, Konsumentenschutz und Gesundheit von einer engeren Zusammenarbeit mit der EU profitieren.
  • Schweizer Errungenschaften wie die Direkte Demokratie und der Service public müssen gewahrt bleiben. Die Zuwanderung aus der EU muss arbeitsmarktorientiert, Löhne und Sozialsystem müssen geschützt bleiben. Denn eine Annäherung an die EU, welche diese Errungenschaften in Frage stellt, wäre chancenlos.

Das alles strebt der Bundesrat in diesen Verhandlungen an. Die dritte Frage - ob wir diese Ziele erreichen - können wir beantworten, wenn das Verhandlungsergebnis vorliegt.

Auf einige Zielsetzungen möchte ich etwas näher eingehen.

Zuerst zum Binnenmarkt: Geregelte und gute Beziehungen zur EU sind für uns wirtschaftlich von enormer Bedeutung. Es geht darum, den hindernisfreien Zugang zum EU-Binnenmarkt sicherzustellen. Grundsätzlich ist das «win-win»: Die Unternehmen in der Schweiz profitieren vom hindernisfreien Zugang zum grossen EU-Binnenmarkt. Und für die EU-Länder ist die Schweiz mit ihren Unternehmen eine sehr wichtige und attraktive Investorin. Beide Seiten haben also ein Interesse an einer Einigung.

Noch haben wir den Zugang zum EU-Binnenmarkt, aber hindernisfrei ist er nur noch beschränkt. Die Binnenmarktregeln entwickeln sich laufend weiter, aber wir können die Marktzugangsabkommen nicht regelmässig aufdatieren. Das führt dazu, dass in der Schweiz zugelassene Produkte in der EU unter Umständen nicht mehr ohne zusätzliche Kosten und administrativen Aufwand zugelassen werden.

Die EU knüpft den hindernisfreien Zugang zum Binnenmarkt daran, dass wir Änderungen der Binnenmarkt-Regeln grundsätzlich auch akzeptieren. Diese dynamische Rechtsübernahme wäre keine automatische Rechtsübernahme, auch wenn das die Gegner gerne behaupten: Parlament und Volk könnten neue Binnenmarktregeln auch immer ablehnen - zum Preis von verhältnismässigen Ausgleichsmassnahmen.

Die dynamische Rechtsübernahme brächte auch Vorteile:

  • Unsere Unternehmen hätten wieder ungehinderten Marktzugang und könnten darauf zählen, dass das so bleibt, weil die Abkommen immer auf dem neusten Stand wären.
  • Die Schweiz könnte sich in Brüssel auch ein einbringen und bei neuen EU-Binnenmarktregeln mitreden. «Decision shaping» nennt man das.
  • Und auch der Weg für neue Abkommen wäre offen. Wir könnten etwa die Stromversorgung stärken, unsere Forschung auf Spitzenniveau halten und Gesundheitsrisiken zusammen mit der EU minimieren.

All diese Aspekte gilt es letztlich gegeneinander abzuwägen.

Viele denken beim Stichwort «Binnenmarkt» vor allem an die Personenfreizügigkeit. Und nicht wenige stellen sie mit Blick auf die anhaltend hohe Zuwanderung grundsätzlich in Frage. Damit sind wir bei meinem zweiten Punkt respektive dem zweiten Ziel, auf das ich eingehen will. Der Bundesrat nimmt das sehr ernst, auch in diesen Verhandlungen:

  • Für uns ist wichtig, dass die Zuwanderung aus den Ländern der EU arbeitsmarktorientiert bleibt: Nur wer einen Job oder genügend Mittel hat, soll zuziehen dürfen.
  • Wer kommt, um von der Sozialhilfe zu leben, soll das Land wieder verlassen müssen.
  • Und die Löhne und die Arbeitsbedingungen in der Schweiz müssen unbedingt wirksam geschützt bleiben.

Der Bundesrat hat immer betont, dass das Lohnschutzniveau nicht geschwächt werden darf. Wir wollen mit der EU ein mehrstufiges Absicherungskonzept vereinbaren - mit Prinzipien, Ausnahmen und einer Nicht-Regressionsklausel.

Und ja - damit Sie mich nachher nicht fragen müssen - der Bundesrat ist bestrebt, «die Mechanismen des Freizügigkeitsabkommens zur Bewältigung unerwarteter Auswirkungen zu konkretisieren». Über die Schutzklausel wurde letzthin viel geschrieben. Ich kann Ihnen einfach sagen: Die Verhandlungen laufen, bis sie abgeschlossen sind.

Klar ist, dass Zuwanderung auch Herausforderungen mit sich bringt. Eine im Sommer veröffentlichte Studie - das sogenannte Chancenbarometer - bestätigt das und zeigt, dass die Schweizer Bevölkerung der Zuwanderung und dem damit einhergehenden Bevölkerungswachstum zunehmend skeptisch gegenübersteht. Der Bundesrat arbeitet deshalb auch an innenpolitischen Massnahmen: Was können wir gegen die Wohnungsknappheit tun? Wie machen wir Beruf und Familie besser vereinbar? Was können wir tun, damit mehr junge Eltern arbeiten? Sollen Unternehmen eine Zuwanderungsabgabe zahlen? Auch solche und andere Fragen prüfen wir.

Gleichzeitig und trotz Skepsis sind wir wirtschaftlich auf Zuwanderung angewiesen. Der Arbeitskräftemangel ist in vielen Branchen Realität und wird sich zuspitzen, weil geburtenstarke Jahrgänge in Rente gehen.

Das dritte Ziel, auf das ich kurz eingehen will, ist mir als Justizminister besonders nah und wichtig: die Rechtssicherheit. Sie betrifft nicht nur einzelne Bereiche, sondern die gesamten Beziehungen mit der EU. Die Rechtssicherheit ist für mich der Grund, weshalb ich überzeugt bin, dass wir eine Stabilisierung und Weiterentwicklung des bilateralen Wegs brauchen.

Verbindliche Regeln, auf die man sich einigt und auf die man sich auch in ausserordentlichen Situationen verlassen kann, sind für beide Partner wichtig. Die EU hat der Schweizer Börse die Äquivalenz entzogen, die Schweiz teilweise von Horizon Europe ausgeschlossen und erkennt in der Schweiz zugelassene Medtech-Produkte nicht mehr an. Wir konnten diese einseitigen Massnahmen nicht verhindern, weil wir uns mit der EU bis dato nicht auf ein Vertragspaket und damit auf verbindliche Spielregeln geeinigt haben.

Auch was die Streitschlichtung angeht, kursieren immer wieder falsche Behauptungen über das, was verhandelt wird: Zum Beispiel, dass der Europäische Gerichtshof künftig bei Streitfragen das letzte Wort haben soll. Der Europäische Gerichtshof legt europäisches Recht aus, das Bundesgericht Schweizer Recht. Über Streitigkeiten würde weder das eine noch das andere Gericht entscheiden, sondern ein paritätisch zusammengesetztes Schiedsgericht.

Es ist Wasser in die Limmat getragen, das hier zu sagen: Aber, dass wir uns mit der EU einigen, liegt auch sehr im Interesse von Studierenden und Forschenden - mein vierter Punkt: Der Bundesrat will, dass sich die Schweiz in Zukunft systematisch an den EU-Programmen beteiligen kann. Horizon habe ich erwähnt, Erasmus Plus ist ebenfalls wichtig: Dem eigenen Horizont tut Auslanderfahrung gut, das weiss ich aus eigener Erfahrung.

Wer profitiert von Austausch und Vernetzung, vom Zugang zu Ressourcen, zu Fachwissen und Netzwerken in ganz Europa? Natürlich, zunächst Sie als Studierende und Forschende. Darüber hinaus aber auch - allgemeiner - die Excellenz unserer Bildungs- und Forschungseinrichtungen sowie unsere Unternehmen, insbesondere unsere KMU. Davon wiederum profitieren wir alle, unsere Wirtschaft und wir als Gesellschaft.

Sie sehen: Der Bundesrat hat klare Ziele und will Ordnung in unsere Beziehungen zur EU bringen. Klarheit schaffen. Wir wollen sicherstellen, dass wir hindernisfreien Zugang zum EU-Binnenmarkt haben, dass wir die Fachkräfte finden, die wir brauchen und Rechtssicherheit und Verlässlichkeit herrschen.

In diesem Zusammenhang ist es mir ein Anliegen, etwas zur sogenannten Nachhaltigkeits-Initiative zu sagen, zu der der Bundesrat nächstes Jahr die Botschaft vorlegen wird. Nach Ansicht des Bundesrates gefährdet die Initiative den Wohlstand, die Wirtschaftsentwicklung und die Sicherheit in der Schweiz - und den bilateralen Weg.

Die Initiative fordert eine Begrenzung der Bevölkerung in der Schweiz auf unter 10 Millionen bis 2050. Bundesrat und Parlament sollen verpflichtet werden, Massnahmen zu ergreifen. Bei einer Überschreitung des Grenzwerts soll - falls keine wirksamen Ausnahme- oder Schutzklauseln ausgehandelt werden können - die Personenfreizügigkeit gekündigt werden. Eine Kündigung würde nach Einschätzung des Bundesrats den bilateralen Weg grundsätzlich gefährden. Denn eine einseitige Kündigung führt wegen der Guillotine-Klausel zum Wegfall aller bilateraler Abkommen I. Ausserdem besteht die Gefahr, dass in diesem Fall auch die Schengen-Dublin-Assoziierungsabkommen beendet würden. Das könnte wiederum zu mehr irregulärer Migration führen und die Bekämpfung der Kriminalität in der Schweiz erschweren.

Der Bundesrat lehnt die Initiative deshalb ohne direkten Gegenentwurf oder indirekten Gegenvorschlag ab.

Meine Damen und Herren

Die Verhandlungen mit der EU sind intensiv und werden von beiden Seiten engagiert geführt. Priorität hat die Qualität der Lösungen. Sobald die paraphierten Texte vorliegen wird der Bundesrat die Verhandlungsergebnisse beurteilen und über die Unterzeichnung des Abkommens entscheiden. Kommt es zu einer Einigung, wird es zu gegebener Zeit eine Volksabstimmung geben. Der Bundesrat wird im Rahmen der Botschaft entscheiden, ob er der Bundesversammlung den Antrag stellen wird, das Verhandlungspaket dem fakultativen oder dem obligatorischen Referendum zu unterstellen.

Der Bundesrat weiss um die Emotionalität des Themas. Denn unser Verhältnis zum grossen Nachbarn ist widersprüchlich: Wir profitieren von Rechtssicherheit, binden und verpflichten uns aber ungern. Wir sind auf Zuwanderung angewiesen und sehen sie doch immer skeptischer. Wir profitieren von der Zusammenarbeit mit der EU und schielen trotzdem auf den Alleingang.

Der Bundesrat wird die Diskussion auf der Basis der Verhandlungsergebnisse führen. Ich lade Sie schon jetzt ein, sich auch dann einzubringen.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.


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