Zusammenarbeit im europäischen Kontext

Berna, 29.08.2024 - Referat von Bundesrat Beat Jans an der 19. Schweizerischen Migrationsrechtstagung in Bern

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Sehr geehrter Herr Professor Achermann,
geschätzte Rechts- und anderweitig Gelehrte,
geschätzte Expertinnen und Experten
und geschätzte Studentinnen und Studenten

Ich möchte mich herzlich für die Einladung bedanken. Wie Sie wissen, ist dies meine erste Teilnahme an den Berner Migrationsrechtstagen. Ich habe diese Einladungen sehr gerne angenommen.

Ich bin jetzt seit acht Monaten Vorsteher des EJPD und damit so etwas wie der oberste Migrationsverantwortliche der Schweiz – jedenfalls in den Augen der Öffentlichkeit.

Sie alle wissen aber: Migration ist eine Verbundaufgabe, bei der alle Staatsebenen in der Verantwortung sind. Der Bund, die Kantone, die Gemeinden. Und nicht nur das: Migration ist auch ein internationales Phänomen. Migration begleitet die Zivilisation seit es sie gibt. Migration ist normal. Ein Phänomen auch, das wir nicht stoppen können, das wir nicht im eigentlichen Sinne lösen können. Aber wir müssen uns stetig darum bemühen, die Situation zu verbessern. Und dafür müssen wir mit unseren Partnern zusammenarbeiten. Mit der EU, mit afrikanischen Ländern auch, ebenso mit internationalen Organisationen.

Deshalb greifen auch Diskussionen, die auf einer nationalen Perspektive beruhen, zu kurz. Bloss nationale Ansätze reichen nicht.

Das gilt auch für das Migrationsrecht: Natürlich haben wir bei der Entwicklung des Schweizer Migrationsrechts nationalen Handlungsspielraum. Aber wir müssen uns dabei stets mit internationalem Recht abstimmen – mit völkerrechtlichen Konventionen, und ganz besonders mit dem europäischen Recht.

Ich möchte deshalb heute die Vernetzung der Schweizer Asyl- und Migrationspolitik mit der europäischen Ebene etwas beleuchten.

Ich beginne mit der Ukraine: Europa hat nach der blutigen Invasion innerhalb weniger Monate mehrere Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer aufgenommen. Die humanitäre Reaktion der europäischen Staaten und der Bevölkerung erfolgte rasch und war von Hilfsbereitschaft und Solidarität geprägt. Das war auch bei uns in der Schweiz so. Der Staat und die Zivilgesellschaft haben dafür gesorgt, dass wir rund 100'000 Menschen aus der Ukraine aufnehmen und unterbringen konnten. Heute sind noch rund 66'000 Ukrainerinnen und Ukrainer mit dem Status S in der Schweiz.

Die Schweiz hat dabei ihre politischen Entscheidungen immer eng mit der EU abgestimmt. Ich denke vor allem an die Aktivierung des Schutzstatus S, der rechtlich weitgehend dem vorübergehenden Schutz der EU entspricht. Man kann deshalb zu Recht von einem gesamteuropäischen Ansatz und einer gemeinsamen europäischen Antwort sprechen.

Das war aus mehreren Gründen wichtig:

Die Koordination mit der EU hat bisher verhindert, dass die Geflüchteten in manchen Ländern besser, in anderen weniger gut geschützt sind. Ukrainerinnen und Ukrainer erhalten überall in Europa Schutz auf einer gleichwertigen Grundlage.

Gleichzeitig hat dieses einheitliche Vorgehen die nationalen Asylsysteme in ganz Europa effektiv entlastet.

Würde die Schweiz oder würden andere Staaten Alleingänge beschliessen, hätte dies zweifellos starke Sekundärbewegungen zur Folge. Es gibt im Ständerat diese Forderung. Wir werden da noch Überzeugungsarbeit leisten müssen. Ein Alleingang der Schweiz ist nach Ansicht des Bundesrats nicht die Lösung.

Es ist mir in diesem Zusammenhang zudem ein grosses Anliegen, dass wir die Integration von Ukrainerinnen und Ukrainern in den Arbeitsmarkt weiter fördern. Wir streben hier eine Erwerbstätigkeitsquote von 40% an.

Ich höre dabei vor allem von den Kantonen und von vielen Akteuren aus der Wirtschaft, dass es ein Problem sei, dass die Menschen aus der Ukraine nach dem Ende des Krieges grundsätzlich zurück müssen. Besser wäre es, wenn Menschen mit Schutzstatus S mit einem Job auch eine Aufenthaltsbewilligung erhielten. Das würde mehr Unternehmen motivieren, Personen aus der Ukraine anzustellen oder auch auszubilden.

Der Status S hat auch Diskussionen ausgelöst zur Frage, ob das Schutzniveau von Status S und Vorläufiger Aufnahme angeglichen werden soll. Dieses Thema hat heute auch bereits Herr Professor Achermann mit einem Teil von Ihnen behandelt. Ein entsprechender Bericht der Expertengruppe wird demnächst veröffentlicht. Diese Diskussion wird also bald weitergeführt.

Ich habe es einleitend erwähnt: Die europäische Reaktion auf die Migration aus der Ukraine war geschlossen und solidarisch. Es ist eine beeindruckende europäische Antwort auf diese grosse menschliche und humanitäre Krise. Immerhin hat Europa in kurzer Zeit rund 4 Millionen Menschen aus einem Kriegsland aufgenommen.

Weniger geschlossen und weniger reibungslos verlaufen in Europa und auch bei uns die Diskussionen zur übrigen Fluchtmigration. Wenn es um Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten aus Afrika, aus dem Mittleren Osten und anderen Kontexten geht, wird der politische Ton rasch rau und polemisch.

Umso wichtiger ist es, dass wir auf die Herausforderungen der Migration glaubwürdige und überzeugende Antworten geben. Antworten, wie die Schweiz sie etwa mit ihrer Asylreform gegeben hat, die seit März 2019 in Kraft ist. Aber auch hier gilt:

Nationale Antworten allein genügen nicht: Menschen kommen von Griechenland, die Balkanroute hoch, Stellen bei uns vielleicht ein Asylgesuch oder sie durchqueren die Schweiz, weiter nach Frankreich und Grossbritannien. Oder sie kommen in Italien an, ziehen nordwärts, zu uns, vielleicht auch weiter nach Deutschland. Die Migrationsbewegungen sind grösser als die Schweiz. Und die Schweiz als Land mitten in Europa ist Teil des europäischen Asylwesens:

  • Rechtlich: Im Rahmen unserer Assoziierung an Schengen und Dublin übernehmen wir laufend europäisches Recht in unser nationales Recht.
  • Und auch ganz konkret: Krisen und Überlastungen wirken sich immer auch auf die Schweiz aus.

Das europäische Asylwesen, da sind wir uns alle einig, hat sich in der Vergangenheit als wenig krisenresistent erwiesen. Denken wir nur an Moria, an Lampedusa oder an überfüllte Schiffe wie die Ocean Viking, die tagelang an keinem europäischen Hafen anlanden konnten.

Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass die EU nach jahrelangen Diskussionen eine Reform beschlossen und den europäischen Migrations- und Asylpakt verabschiedet hat.

Gelungen ist dieser politische Schulterschluss, weil die Mitgliedstaaten der EU und die Parteien des EU-Parlaments in wichtigen Fragen grosse Zugeständnisse gemacht haben und Kompromisse eingegangen sind. Niemand ist ganz glücklich mit dem EU-Pakt – aber das ist bei Kompromissen oft der Fall.

Gleichzeitig finden viele, und zwar in allen politischen Lagern: Dieser Pakt ist besser als der Status quo.

Mit dem Pakt soll

  • das europäische Asylwesen krisenresistenter werden;
  • die irreguläre Migration zurück gehen;
  • und die Verantwortung gerechter auf die europäischen Staaten verteilt werden.

Was kommt hier also auf uns zu?

Was sind die grössten Neuerungen?

Die fünf wichtigsten Punkte sind aus meiner Sicht die folgenden:

  • Zunächst der neue Solidaritätsmechanismus: Wenn in einzelnen Staaten besonders viele Flüchtlinge und Migrantinnen ankommen, können sie von den anderen EU-Mitgliedstaaten Unterstützung bekommen. Die anderen Staaten müssen dann helfen, sie müssen solidarisch sein. Das ist jetzt so festgeschrieben. Sie können entweder Flüchtlinge übernehmen oder sie helfen finanziell oder leisten logistische Hilfe. Die Schweiz kann sich freiwillig an der europäischen Solidarität beteiligen, sie muss es aber nicht. Das ist der Vorschlag des Bundesrats. Der Bundesrat und vor allem auch meine Vorgängerinnen an der Spitze des EJPD haben in den letzten Jahren immer wieder betont, wie wichtig Solidarität für das Gelingen der Asylpolitik ist.
  • Zweitens: Die Mitgliedstaaten müssen neu für Personen, die ohne Visum in der EU ankommen, ein Überprüfungsverfahren durchführen, ein sogenanntes Screening. Das müssen alle Mitgliedstaaten, besonders aber diejenigen an den EU-Aussengrenzen.
  • Diejenigen Migrantinnen und Migranten mit wenig Aussicht auf Schutz kommen dann in der EU, und das ist die dritte wichtige Neuerung, in ein schnelleres Asylverfahren an den Aussengrenzen.
  • Viertens: Der Pakt bestätigt das Dublin-System, d.h. die Zuständigkeit für ein Asylgesuch bleibt beim Erststaat. Dublin wird aber weiterentwickelt, insbesondere werden Fristen angepasst. Beispielsweise werden Haftfristen verkürzt.
  • Und schliesslich entwickelt der Pakt die Eurodac-Datenbank weiter. Das verstärkt den Informationsaustausch zwischen den Staaten und ermöglicht uns einen noch besseren Überblick über die irreguläre Migration in Europa.

Diese Neuerungen sollen ab Mitte 2026 umgesetzt werden. Und natürlich wollen jetzt alle wissen: Wie wird sich der EU-Pakt auf die Schweiz auswirken?

Rein rechtlich muss die Schweiz nur einige, und zwar eher operationelle, Elemente des Pakts ins nationale Recht übernehmen, namentlich das Screening, die Dublin-Weiterentwicklungen und Eurodac.

Die beiden grossen Neuerungen des Pakts müssen wir nicht übernehmen. Der Solidaritätsmechanismus und die Aussengrenzverfahren. Das sind keine Weiterentwicklungen des Schengen/Dublin-Acquis. Die Schweiz kann sich an der Solidarität aber wie gesagt freiwillig beteiligen.

Der Bundesrat hat die Vernehmlassung zu den Elementen, die die Schweiz übernehmen muss, vor zwei Wochen eröffnet. Die Botschaft soll im nächsten Frühjahr verabschiedet werden, dann folgt der parlamentarische Prozess.

Und wie wird sich der Pakt in der Praxis auswirken?

Das lässt sich heute noch nicht genau abschätzen. Aber: Wenn der Pakt wie vorgesehen umgesetzt wird kann er zu einer Reduktion der irregulären Migration nach Europa und zu weniger Sekundärmigration innerhalb Europas beitragen. Das könnte auch zu einer Entlastung des Schweizer Asylwesens führen.

Ich verwende bewusst den Konjunktiv, denn das wird sich erst im Rahmen der Umsetzung zeigen. Zudem dürfen wir nie vergessen: Migration hängt immer stark von externen Faktoren ab: Ich denke an Krieg, Krisen, Klimawandel und Armut. Und diese Probleme lassen sich nicht mit Migrationsrecht lösen.

Die Schweiz hat bei der Entwicklung des Pakts übrigens eine konstruktive Rolle gespielt: Sie hat ihre Mitwirkungsrechte als assoziierter Staat wahrgenommen. Mitentscheiden konnten wir hingegen nicht, das ist den EU-Mitgliedstaaten vorbehalten.

Der Bundesrat unterstützt die Stossrichtung des EU-Pakts. Dieser enthält auch einige für Europa neue Elemente, die wir in der Schweiz schon kennen:

Die Solidarität ist in der Schweizer Asylpolitik zum Beispiel ein geradezu selbstverständliches Element, wir haben ja den kantonalen Verteilschlüssel. Es wird zudem neu in ganz Europa kostenlose Rechtsberatung oder kostenloser Rechtsschutz eingeführt – auch das haben wir in der Schweiz bereits.

Die Vernehmlassung läuft nun bis im November, im Frühling 2025 wird der Bundesrat die Botschaft verabschieden, danach folgt der parlamentarische Prozess. Auch ein Referendum ist wie gesagt möglich. Die Umsetzung erfolgt dann ab Sommer 2026.

Ich weiss, es gibt auch Kritik am Pakt. Das nehmen wir ernst, wir werden uns auch dafür einsetzen, dass die Menschenrechte jederzeit eingehalten werden, auch in den neuen Zentren an den EU-Aussengrenzen.

Ich möchte Ihnen dazu noch kurz eine mehr persönliche Geschichte erzählen: Wir hatten kürzlich eine Kadertagung meines Departements, mit einer Podiumsdiskussion zum EU Asyl- und Migrationspakt. Mit dabei war auch ein Deutscher EU-Parlamentarier der Grünen, der bei den Verhandlungen auf europäischer Ebene mit dabei war und gegen den Pakt stimmte. Statt eines grossen neuen Regelwerks hätte er schrittweise Veränderungen vorgezogen. Am Schluss jener Diskussion fragte ihn der Moderator dann noch: wie er trotz Widerstand auf europäischer Ebene jetzt abstimmen würde, wenn er bei uns in der Schweiz mitabstimmen könnte – mit Ja oder Nein?

Nach einigem Zögern sagte er schliesslich, er würde JA stimmen: das neue Recht auf europäischer Ebene sei nun Realität, jetzt gehe es darum das Maximum rauszuholen, und da soll die Schweiz eine wichtige Rolle spielen.

In der Schweiz sind nicht nur die Regierung und das Parlament für die Weiterentwicklung des Rechts zuständig. In der Schweiz hat eben auch unsere Chefin, die Bevölkerung, ein gewichtiges Wort mitzureden. Das wird sie tun – nicht nur beim neuen EU-Pakt:

Neben einem allfälligen Referendum zum EU-Pakt sowie einem Referendum zu den Bilateralen III wird die Bevölkerung in den nächsten Jahren auch über die Nachhaltigkeitsinitiative und sehr wahrscheinlich über die Grenzschutzinitiative abstimmen. All dies wird auch das Migrationsrecht prägen und damit auch die künftige Kooperation zwischen der EU und der Schweiz inmitten Europas.

Sie alle, geschätzte Damen und Herren, die Sie Expertinnen und Experten im Bereich des Migrationsrechts sind, haben dabei eine wichtige Aufgabe: Äussern Sie sich. Beziehen Sie Stellung. Teilen Sie Ihr Wissen. Denn davon lebt unsere Demokratie.

Zum Schluss möchte ich noch etwas ansprechen, das mir besonders wichtig ist: Die Menschen. So wie ich befassen sich viele von Ihnen mit dem Migrationsrecht – mit den Regeln also, die eine unbestimmte, eine scheinbar gesichtslose Anzahl von Menschen betreffen.

Aber diese Menschen sind nicht gesichtslos. Es sind Individuen, die zu uns flüchten und unseren Schutz suchen. Es sind verzweifelte Männer und Frauen und Kinder, die sich ein besseres, ein sicheres Leben für sich und ihre Familien wünschen.

Es ist mir wichtig, dass wir sie nicht als Rechtsunterworfene sehen, sondern als Menschen. Menschen mit einer Würde, die wir jederzeit respektieren und schützen müssen.


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