Maturafeier des Gymnasiums Münchenstein

Bern, 22.12.2005 - Ansprache von Bundeskanzlerin Annemarie Huber-Hotz, Münchenstein, 22. Dezember 2005

Es gilt das gesprochene Wort.

Komm man röwer, ick heb dir ne Beer

Liebe Anwesende

„An den Früchten sollt ihr sie erkennen“ - Noch nie habe ich diesen alten und durch das viele Zitieren schon etwas abgewetzten Spruch aus der Bibel so gern in den Mund genommen wie an der heutigen Maturafeier. Hier hat er für mich die unmittelbare Frische der Aktualität. Und ich zitiere ihn auch mit einigem Stolz, denn eine der besten Früchte der Bundeskanzlei, Urs Albrecht, den ich hier mit Freuden wieder sehe und den ich ganz besonders herzlich begrüsse, ist Rektor dieses grossen traditionsreichen Gymnasiums, das durch sein politisches Engagement Eingang in die Geschichtsbücher findet. Ihr Gymnasium, sehr verehrter Herr Rektor, steht dem in nichts nach, hat es doch seinerseits der Bundeskanzlei eine seiner besten Früchte zurückgeschenkt, Isabel Kamber nämlich, die hier ihre Matur gemacht hat und schon nach kurzer Zeit stellvertretende Leiterin eines für unsere Gesetzgebung wichtigen Dienstes geworden ist.

An den Früchten sollt ihr sie erkennen. Diesen Spruch darf sich denn auch das Gymnasium Münchenstein an die Fassade schreiben. Glauben Sie mir, sehr verehrte Anwesende: Es braucht sehr viel Mut, Ausdauer und Innovationskraft, um ein Gymnasium dieses Kalibers durch eine so bildungsturbulente Zeit wie die unsrige zu steuern. Die Rektoren und die Lehrerinnen und Lehrer haben hier zum Besten unseres Landes hervorragende Arbeit geleistet. Ich danke ihnen stellvertretend für das Land sehr herzlich für ihren ausdauernden, kreativen und erfolgreichen Einsatz. Sie dürfen darauf zurecht stolz sein.

Ihnen, liebe Eltern, brauche ich von Stolz nichts zu sagen, er strahlt schon ganz natürlich aus Ihren Gesichtern. Die Natur feiert ihre Erfolge ohne Aufforderung. Sie, liebe Eltern, haben einen grossen Anteil an der Erfolgsgeschichte der hier versammelten Abschlussklassen. Sie sind nicht so ganz einfach auf den Platz gekommen, auf dem Sie jetzt sitzen. Hinter Ihnen liegt ein weiter und bei allem Glück auch ein schwieriger und kräfteraubender Weg. Sie haben Ihre Kinder durch die Mühen und Nöte des Erwachsenwerdens begleitet, in denen der Mensch oft sich selbst und seiner Umgebung fremd wird. Und im Begleiten haben Sie sie mehr und mehr losgelassen, um ihnen so den Weg zur Selbstbestimmtheit zu öffnen. Für dieses gebende Verzichten sind Ihnen nicht nur Ihre Kinder, sondern auch unsere Gesellschaft sehr dankbar, die dringend eigenständiger, wissenshungriger junger Leute bedarf.

Nun aber zu den Früchten selbst, auf die hier alle so stolz sind. Ich gratuliere Ihnen, liebe Maturandinnen und Maturanden, von Herzen zu Ihrem grossen Erfolg. Sie dürfen heute eine erste Ernte einfahren, denn auch Sie sind nicht einfach so auf den Platz gekommen, auf dem Sie jetzt sitzen. Wer am Gymnasium Münchenstein die Matura besteht, hat bereits eine reiche Geschichte hinter sich:

  • Eine soziale, denn jede und jeder von Ihnen musste sich in der Klasse ihren oder seinen Platz erarbeiten. Und jede und jeder musste mit den Lehrerinnen und Lehrern zurechtkommen, was in einer Zeit, wo die Neuorganisation des Gehirns oft zu hartnäckigen Verunsicherungen führt, kein Schleck ist, auch für die Lehrerinnen und Lehrerinnen übrigens nicht.
  • Sie haben aber auch eine Lerngeschichte hinter sich. Sie sind mit viel Einsatz in die unterschiedlichsten Wissensgebiete eingedrungen und haben sich viel Wissen angeeignet, das allen Respekt verdient. Wir Älteren, die wir unsere Jugendleistungen bereits mit dem Goldstaub verklärender Erinnerung berieseln, meinen oft, unsere Matur oder unser Lehrabschluss seien dann noch etwas ganz Anderes gewesen. Das trifft aber nicht zu: ich jedenfalls bin sicher, dass ich keine Chance hätte, die Matur zu bestehen, wenn ich morgen antreten müsste.

 

Erdbeeren, Bananen, Ananas - die eigentlichen Früchte werden heute per Jet in die ganze Welt verfrachtet. Die Globalisierung hebt die Jahreszeiten auf und schickt uns Früchte aus allen Teilen der Welt und an jedem Tag im Jahr auf den Tisch. Der Preis für Anbau und Versand ist dabei in eklatanter Weise zu tief, der Preis für die Qualität dagegen oft zu gross. Die Früchte werden lange vor ihrer Matur gepflückt. Sie machen dann so etwas wie eine dumpfe Nachreifung durch und verlieren ihre wunderbare Baumfrische.

Bei Gymnasialfrüchten ist das ganz anders. Sie werden nicht automatisch versandt, sie müssen sich selbst entscheiden, in ein anderes Land, in ein anderes Klima zu gehen, sich fremde Sprachen anzueignen und auf Menschen mit anderen Sitten, Denkweisen und Lebensformen zuzugehen. Wenn sie es aber tun, dann gibt es keine dumpfe Nachreifung, nein, dann saugen sie sich voll mit neuem Leben, mit anderen Kulturen. Mit dem Erlernen neuer Sprachen entdecken sie Welt und Menschen auf ganz anderen Wegen neu. Das ist eine wunderbare Chance, die durch das Bolognamodell heute noch leichter wahrzunehmen ist als früher. Nehmen Sie, liebe Maturae, liebe Maturi diese Chance wahr. Vielleicht mag sie Ihnen heute als Umweg erscheinen, aber ich kann Sie aufgrund meiner eigenen Erfahrung versichern, dass es kein Umweg, sondern ein Königsweg ist. Ein Auslandaufenthalt, nicht nur als konsumierender Tourist, sondern als arbeitende Studentin oder Student macht nicht nur Ihr Leben reicher, sondern er verbessert auch Ihre Berufschancen. Denn ein Studium im Ausland vermittelt sehr viel mehr als nur Hörsaalwissen. Und schliesslich, dies allerdings nur so ganz nebenbei: Studentinnen und Studenten, die nach einem solchen Aufenthalt so voller neuem Leben und voller neuer Erfahrungen nach Hause kommen, tun’s den besten Früchten gleich: Sie sind so richtig zum Anbeissen.

Matura ist nicht nur krönender Abschluss, sondern vor allem Anfang.
Sie alle sind im Aufbruch zu einer langen, abenteuerlichen Reise in die universitäre Welt der Wissenschaft, zu anderen Menschen und zu sich selbst.
Auf diese Reise möchte ich Ihnen gerne drei Texte, zwei Gedichte und einen kurzen Spruch, mitgeben.

Das erste Gedicht stammt von Theodor Fontane. Es hat den Titel Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland, und ist von geradezu weihnachtlicher Qualität. (Der Text wurde von einem Schüler vorgetragen)

Ich habe dieses Gedicht für Sie ausgewählt, weil es einen Menschen schildert, der ganz offensichtlich das Leben voll lebt und geniesst. Es schildert jemanden, der anderen Menschen gegenüber wohlgesinnt ist, und der junge Leute mit geradezu zärtlichem Wohlwollen wachsen sehen kann. Und obwohl Herr von Ribbeck sicher darunter leidet, einen hartherzigen Sohn zu haben., hadert er nicht; er versucht nicht zu ändern, was er nicht ändern kann, aber er sorgt auf völlig inoffensive Weise dafür, dass das, was ihm wichtig ist, sich durchsetzt.

Für unsere auf Gewinnoptimierung ausgerichtete Zeit, in der man auf teuren Kursen und Tagungen lernt, wie man sich durchsetzt, ist dieser Herr von Ribbeck ein wunderbares Gegenbild. Übrigens gar nicht so ineffizient, wie man vielleicht bei Price Waterhouse Coopers meinen könnte. Während nämlich die Halbwertzeit des Ruhms erfolgreicher Bankiers fast so kurzlebig ist wie der Börsenkurs, ist der Herr von Ribbeck noch Jahrhunderte nach seinem Tod so populär, dass sogar Betty Bossy eine Torte nach ihm benannt hat.

Ich wünsche Ihnen allen ein volles, Leben, das Ihnen jederzeit das wunderbare Ribbecksche Wohlwollen ermöglicht. Dieses soll ihr allererster Reisebegleiter sein.

Mein zweiter Text besticht schon allein mit seiner Kürze:

„Die Flöhe und die Wanzen
Gehören auch zum Ganzen.“

Das ist nicht etwa eine unqualifizierte Anspielung auf das aktuelle, politische Treiben im Bundesbern. Der Text ist schon sehr alt, denn er stammt von Goethe, aber er ist, wie fast alles, was Goethe geschrieben hat, auch heute brandaktuell.

Auf Ihrer Reise werden Sie auf Schritt und Tritt Leuten begegnen, die zum Teil ärgerliche Schwächen haben, oder Sie werden oft erfahren müssen, wie gute Lösungen durch mangelnde Kompromissbereitschaft getrübt werden. Man kann sich nun über solche Schwächen anderer zu Tode ärgern oder sich in kleine Ungereimtheiten geradezu verbeissen – mit dem Erfolg, dass diese Nebensachen mehr und mehr zur Hauptsache anschwellen. Solches habe ich schon oft beobachten müssen. Ich wünsche Ihnen deshalb, dass Sie Goethes souveräne Gelassenheit und Toleranz, die Wanzen Wanzen und Flöhe Flöhe sein lässt, stets auf Ihrem Lebensweg begleiten wird.

Mein dritter Text stammt von Hilde Domin und hat den Titel


Wer es könnte

Wer es könnte
Die Welt
Hochwerfen
Dass der Wind
Hindurchfährt

Dieses Gedicht finde ich deshalb so schön, weil es den Wunsch, den es ausdrückt, selber schon fast erfüllt. Wer es liest, fühlt sich schon freier. Solche Befreiung brauchen wir immer wieder, denn wir sind in der Regel wie Nisttiere, die alles Mögliche und Unmögliche um sich versammeln. Wir haben Mühe, uns von etwas, das uns vertraut ist, zu trennen. Erst wenn wir umziehen und dabei viel Ballast abwerfen, merken wir, wie schön und frei wir uns schon längst hätten fühlen können. Wir nisten uns aber nicht nur in Gegenständen, sondern auch in Verhaltensweisen, Denkbahnen und Denkgewohnheiten ein und zwar so, dass wir Mühe haben, die Dinge einmal aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Diese weit verbreitete Unfähigkeit zum Perspektivenwechsel ist die Mutter aller Sackgassen, in der Wissenschaft genauso wie in politischen oder gerichtlichen Auseinandersetzungen und überall dort, wo Partner zu einer Lösung finden müssen.

Die Welt hochwerfen, dass der Wind hindurchfährt, heisst nun aber, die Welt von unten, also aus einer ganz neuen Perspektive zu betrachten. Das gibt dem Wind die Möglichkeit, hinderliche Spreu wegzublasen, das öffnet den Weg aus der Sackgasse. Der Text von Hilde Domin ist für mich deshalb ein wichtiger Reisebegleiter, weil er dafür sorgt, dass die Reise sich nie in dumpfer Scheingeborgenheit verliert oder in Sackgassen stecken bleibt.

Diese drei Reisebegleiter möchte ich Ihnen also mitgeben:
Das Grundwohlwollen eines Herrn von Ribbeck anderen Menschen gegenüber, Goethes souveräne Gelassenheit und Hilde Domins Mut, ausgetretene Pfade zu verlassen und Welt, Menschen und Dinge immer wieder unter neuen Gesichtspunkten zu betrachten.

Mit Früchten habe ich begonnen, und mit der edelsten Frucht, der Weintraube, will ich schliessen:
Die Weintraube bezieht ihre Kraft, ihre Aromastoffe und alles, was ihr das Potenzial zu einem mässigen oder zu einem hochkomplexen Spitzenwein gibt, aus dem Boden, auf dem sie wächst. Echte Weinkenner können mit einiger Sicherheit sagen, von welchem Gut ein Wein stammt, ja sogar, auf welcher Parzelle des Weinbergs er gewachsen ist. Es ist bekannt – und in der Bundeskanzlei haben wir einschlägige Erfahrung – dass Münchenstein, in der Sprache des Weins gesprochen, zu den grossen Namen gehört. Ich wünsche Ihnen allen, die Sie hier versammelt sind, von Herzen, dass der Münchensteiner Jahrgang 2005 durch seinen Gehalt, durch seine Differenziertheit und vor allem durch sein leidenschaftliches Feuer immer verrät, auf welchem Boden er gewachsen ist, und dass er überall dort, wo man findige, kreative Köpfe braucht, die Kenner in begeisterte Aufregung versetzen wird.

Ich danke Ihnen.


Herausgeber

Bundeskanzlei
http://www.bk.admin.ch

https://www.admin.ch/content/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-5835.html