Appel an die Vernunft als Gegenmittel zu Vorurteilen

Bern, 31.07.2024 - Ansprache von Herrn Bundesrat Guy Parmelin, Vorsteher des Eidgenössischen Departements für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF), anlässlich des Nationalfeiertags 2024 --- Europaplatz, Luzern, 31. Juli 2024 --- Es gilt nur die gesprochene Version.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger

Liebe Freunde aus der Zentralschweiz

Liebe Gäste von ausserhalb

Meine Damen und Herren

 

Was für ein Privileg, dass ich heute hier in Luzern die 1.-August-Rede halten darf.
In dieser wunderschönen Stadt, die durchaus zur Bundesstadt hätte werden können, wenn ihr Bern 1848 nicht zuvorgekommen wäre.
Ich gebe zu, ich mag diese Stadt und diese Region hier sehr. Sie zählen für mich zu den schönsten Tourismusdestinationen unseres Landes, (auch wenn gewisse Politiker beim Thema Tourismus in Luzern Rot sehen und sogar Rollkoffer verbieten wollen).
Wie auch immer, an dieser Stelle bereits ein ganz grosses Merci an Frau Ständerätin Andrea Gmür-Schönenberger für die Einladung zu dieser Feier hier am Ufer des Vierwaldstättersees.

 

Als Bundesrat wird man nicht immer so freundlich empfangen wie hier. Manchmal bekommt man auch den Kopf gewaschen, wenn Sie mir diesen Ausdruck erlauben.

 

So hat mir vor einigen Jahren eine Bürgerin übelgenommen, dass ich im Zusammenhang mit der Umsetzung eines wichtigen politischen Ziels des Bundes von Stolz gesprochen habe. Wahrscheinlich ging ihr dieser Stolz etwas zu sehr in Richtung Überheblichkeit.
Sie war der Ansicht, dass unser Land nicht besser sei als jedes andere.

 

Generell lohnt es sich, die Frage nach dem «Stolz» zu stellen, vor allem rund um den Schweizer Nationalfeiertag, bei dem es ja auch um «Nationalstolz» geht. Ist es denn wirklich unanständig, wenn man diesen Stolz offen zeigt? Gibt es gute Gründe, seinen Patriotismus zu zügeln? Ist die Schweiz aufgrund ihrer bescheidenen Grösse zur Bescheidenheit verdammt? Oder dürfen wir nur bei sportlichen Erfolgen stolz sein auf die Athletinnen und Athleten unseres Landes? Sicherlich stimmen Sie mir zu, dass Stolz gerade heute ein sehr passendes Thema ist.

 

Als der Autor William Faulkner 1949 den Nobelpreis für Literatur erhielt, ermunterte er die jüngere Schriftstellergeneration dazu, sich nicht länger in Zurückhaltung zu üben.
Die jungen Autoren sollten seiner Meinung nach von den alten Wirklichkeiten und Wahrheiten des Herzens schreiben. Von Liebe, Ehre, Stolz, Mitgefühl und Opferbereitschaft. Ohne diese Zutaten sei jede Erzählung verloren und werde schnell vergessen.

 

Somit dürfen wir über den Stolz fortan als eine der Wahrheiten des Herzens reden. Und ich möchte dies unterstreichen:
Unser Land braucht sich nicht zu schämen. Wir wissen uns zu helfen. Wir dürfen selbstbewusst dafür einstehen.

 

Im Französischen haben wir die schöne Redewendung regarder par le petit bout de la lorgnette. Sie kennen das und haben es als Kind vielleicht auch ab und zu gemacht: Man schaut von der falschen Seite durch das Fernglas, sodass alles ganz klein aussieht, der Horizont in weite Ferne rückt und der Überblick verloren geht.

 

Dieser optische Effekt zeigt genau das, was ich meine: Wir tendieren dazu, uns immer mit etwas Abstand zu betrachten und uns kleiner zu machen, als wir eigentlich sind.

 

Aber es stimmt auch, was die Bürgerin gemeint hat: Wir sollten uns nicht zur Selbstzufriedenheit verleiten lassen. Wir dürfen zugeben, dass wir - wie viele andere Länder - auch unsere Probleme haben: die ewig steigenden Gesundheitskosten, eine Aussenpolitik, die immer komplexer wird, eine Umweltpolitik, mit der die einen zufrieden sind, andere hingegen gar nicht. Und dabei übersehe ich bestimmt noch einiges.

 

Natürlich muss man all diese Herausforderungen berücksichtigen, sie möglichst objektiv betrachten, und sich darum bemühen, Lösungen zu finden. Dabei sollten wir aber aufpassen, dass wir vor lauter Bäumen den Wald noch sehen, auch wenn in der Politik gerne alles etwas überspitzt dargestellt wird.

 

Meine Damen und Herren,

 

wir leben in einem Land, das sich sehr glücklich schätzen darf: kein Krieg, keine Unterdrückung, kaum Korruption oder Arbeitslosigkeit. Hingegen viele Freiheiten - vor allem die Freiheit, sich seine eigene Meinung zu bilden und diese jederzeit zu äussern - und sogar die Freiheit, von der falschen Seite durch das Fernglas schauen zu dürfen...

 

Unsere Institutionen sind stabil. In unseren Gemeinden, in unseren Kantonen, ja selbst an der Spitze des Bundes garantiert unser Kollegialsystem, dass die Regierungsgeschäfte keine allzu impulsiven Kehrtwenden durchlaufen. Alles entwickelt sich weiter. Es gibt keine plötzlichen Kursänderungen, die rasch das zerstören können, was über die Jahre wohlüberlegt aufgebaut wurde.

 

Die Schweiz gehört weltweit zu den zehn Ländern mit der höchsten Wirtschaftsleistung pro Kopf, unser Land verfügt über eine breit aufgestellte und widerstandsfähige Wirtschaft. Gemäss dem letzten Ranking des International Institute for Management Development in Lausanne belegt die Schweiz sogar den zweiten Platz unter den wettbewerbsfähigsten Ländern der Welt. Dies dank einer austarierten Kombination aus Wirtschaftswachstum, stabilem Finanzhaushalt, gutem Geschäftsklima und erstklassigen Infrastrukturen.

 

Darüber hinaus erfreuen wir uns einer beachtlichen Lebensqualität: Wir haben Zugang zu hochwertigen Pflegeleistungen. Wir verfügen über ein starkes soziales Auffangnetz, unser Bildungssystem eröffnet uns zahlreiche Ausbildungsmöglichkeiten auf allen Stufen und an ausgezeichneten Einrichtungen.

 

Aber das Lernen und das Lehren ist noch nicht alles: Wir sind auch in der Forschung stark. Wir machen, dank hervorragender Kompetenzen, regelmässig Entdeckungen und Erfindungen. Gemessen an der Wirtschaftsleistung ist die Schweiz bei den Investitionen in Forschung und Entwicklung weltweit auf dem sechsten Platz.

 

Schliesslich weist die Schweiz auch eine grosse kulturelle Vielfalt auf, mit ihrer Mehrsprachigkeit, einer starken Identität, der traditionellen direkten Demokratie und - da ja auch das Herz angesprochen werden soll - mit wunderbaren Landschaften, wie hier am Vierwaldstättersee, wo man gerne eine Bundesfeier besucht.

 

Diese vielleicht etwas langatmige Aufzählung - die Sie mir hoffentlich nicht übelnehmen - wurde mir nicht von irgendeiner Werbeagentur untergejubelt. Wir brauchen gar keine Schönfärberei, denn die Tatsachen sprechen für sich. Und was ich damit wirklich sagen will: Das alles sind grosse Leistungen, und darauf dürfen wir zu Recht alle stolz sein.

 

Eine Feier wie die heutige sollte aber nicht nur dazu verwendet werden, zu sagen wie gut wir sind. Sie sollte auch zur Selbstreflexion genutzt werden, um darüber nachzudenken, was wir alle verbessern können. Welche persönlichen Ressourcen können wir angesichts der komplexen gegenwärtigen Realitäten mobilisieren? Zu diesen Ressourcen gehören für mich:

 

  • Mut und Entschlossenheit
  • Optimismus
  • Anpassungsfähigkeit
  • Einigkeit
  • Erfahrung
  • und Prinzipientreue

 

Meine Damen und Herren,

 

Der Nationalfeiertag bietet uns auch die Gelegenheit, einmal um uns zu schauen:
auf die Welt, in der wir leben. Sie präsentiert sich noch immer sehr nervös und aufgewühlt.

Mir ist bewusst, dass diese Situation vielen von uns Sorge bereitet. Schonungslose Wirtschaftsinteressen, politische Herausforderungen und Machtkämpfe, scheinen erneut zu dominieren.

Angesichts dieser Umstände möchte ich uns alle ermutigen, dass wir uns nicht von Eindrücken und Vorurteilen überrollen lassen, sondern alles erst einmal vernünftig analysieren. «Benutze deinen Verstand!» oder «Hab Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!» hiess es zur Zeit der Aufklärung. Diese Epoche hat bekanntlich unsere politischen, sozialen und kulturellen Institutionen stark mitgeprägt.

 

Aber die Aufklärung rief nicht nur zur Vernunft auf, sondern förderte auch den wissenschaftlichen Fortschritt, die Wissensverbreitung, die Achtung der Individualrechte. Und sie forderte eine demokratische Regierungsführung sowie Emanzipation durch Bildung. Noch immer hat dieser Ansatz nichts von seiner Aktualität verloren - er scheint sogar notwendiger denn je.

 

Ich kann bestätigen, dass sich der Bundesrat genau von diesen Idealen leiten lässt. Auch wenn unser politisches System manchmal etwas zu konsensorientiert wirkt, Entscheidungsprozesse oft sehr lange dauern und die erreichten Kompromisse nicht unbedingt Begeisterungsstürme auslösen: Trotz alledem bietet unser System nicht nur ein hohes Mass an Stabilität, sondern auch an Innovation.

 

Meine Damen und Herren,

 

Vor bald 80 Jahren hat Winston Churchill die Demokratie sehr nuanciert definiert. Er sagte, die Demokratie sei weder perfekt noch unendlich weise, aber zumindest das am wenigsten schlimmste aller politischen Systeme. Diese pragmatische und grundsätzlich wohlwollende Sichtweise könnte genauso gut für unser Land gelten: ein Land, das sicherlich weder perfekt noch unendlich weise ist, von dem andere jedoch in vielerlei Hinsicht etwas lernen könnten.

 

Wir alle tragen die Verantwortung für unser Land. Die Schweiz lebt durch unser Engagement und unseren Zusammenhalt.

 

Nun wünsche ich Ihnen allen einen wunderbaren Abend und morgen einen feierlichen 1. August 2024

 

Es lebe die Schweiz, es lebe der Kanton Luzern und sein wunderschöner gleichnamiger Hauptort!


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