Bern, 01.08.2024 - Rede von Bundesrat Beat Jans zum Nationalfeiertag

Es gilt das gesprochene Wort

 

Liebe Schweizerinnen und Schweizer,
Zugewanderte, Zugezogene und Zugeneigte

Vorab muss ich Ihnen etwas gestehen: Als junger Mann hätte ich nicht gedacht, dass ich einmal als Bundesrat eine 1. August-Rede halten würde. Damals war ich nämlich sehr skeptisch gegenüber staatlichen Institutionen, den Rechtsstaat habe ich eher als Problem gesehen.

Im Alter von 25 Jahren hat sich das schlagartig geändert. Ich war für Helvetas in Haiti und habe dort mit lokalen Kleinbauern gearbeitet. Ich habe erfahren, dass man mit Engagement das Leben von Menschen verbessern kann. Dann wurde ein Freund, ein Haitianer, mit dem ich in einer WG lebte, wegen seines politischen Engagements verhaftet und gefoltert.

Die Ohnmacht und die Verzweiflung, die ich angesichts dieser himmelschreienden Ungerechtigkeit fühlte, haben mich geprägt. Sie bewegen mich bis heute. Damals hat sich eine Erkenntnis in mein Bewusstsein gebrannt: Ein funktionierender demokratischer Rechtsstaat ist eine grosse Errungenschaft, die wir verteidigen müssen! Er schützt uns vor Willkür und Gewalt, ermöglicht, Konflikte gewaltfrei auszutragen und er schafft Sicherheit, die uns erlaubt, uns zu entfalten. Ein demokratischer Rechtsstaat trägt wesentlich zu unserer Freiheit bei.

«Der Sinn von Politik ist Freiheit», sagte Hannah Arendt. Parlamente, Regierungen, Gerichte, Gesetze, Verfassungen, auf lokaler, kantonaler oder nationaler Ebene: Der Sinn unserer Institutionen ist Freiheit. Freiheit ist die Möglichkeit, Dinge zu ändern und zu verbessern, uns zur Wehr zu setzen und gegen Unrecht aufzulehnen. Freiheit heisst nicht, ohne Rücksicht auf andere zu machen, was man will. Freiheit darf nicht das Privileg der Starken sein. Freiheit ist die Möglichkeit, aus mehreren Möglichkeiten auszuwählen. Sich selber zu befreien. Mein Freund in Haiti war das Opfer einer Diktatur, er hatte diese Möglichkeit nicht. Wir haben es besser: Unsere direkte Demokratie gibt uns gar Werkzeuge in die Hand, um Fehler im System zu reparieren.

In meinem ersten halben Jahr als Bundesrat gab es einen Anlass, den ich so schnell nicht vergessen werde, weil er mir genau das eindrücklich bewusst gemacht hat. Im Juni war ich bei der Guido-Fluri-Stiftung. 800 ehemalige Verding- und Heimkinder hatten sich in Thun versammelt. Menschen, die unvorstellbares Leid erleben mussten. Kaum jemand hat einen besseren Grund, auf die Schweiz und auf unseren Rechtsstaat wütend zu sein, als sie. Der Staat hat ihnen grosses Unrecht getan. Ein schwieriger Anlass für mich als Justizminister? Überhaupt nicht, es war ein gefreutes Sommerfest. Lebensfreude und Optimismus lagen in der Luft. Ich habe wenig von einer Opferhaltung gespürt, dafür umso mehr Versöhnung.

Sich selber befreien – die ehemaligen Verding- und Heimkinder, die Fremdplatzierten, Eingesperrten, Entrechteten, haben das geschafft. Mit Hilfe der Guido-Fluri-Stiftung und einer Volksinitiative. Unterdessen hat sich der Bundesrat für das begangene Unrecht entschuldigt und das Parlament hat Wiedergutmachung beschlossen. Die Initianten haben dem Rechtsstaat mit einer Volksinitiative auf die Sprünge geholfen. Unser Rechtsstaat hat ihnen die Möglichkeit geboten, ihr Schicksal zu verändern. An diesem Anlass sind Leute zu mir gekommen und haben gesagt: Es ist jetzt in Ordnung, ich bin mit der Schweiz im Reinen.

Die Schweiz ist das Land der Möglichkeiten und Chancen. Sie bietet sie, wie kaum ein anderes Land. Die Chance, voranzukommen, das Glück zu finden und sein Leben zu gestalten.

Friedrich Dürrenmatt drückte es einmal so aus: «O Schweiz! (…) Warum muss ich dich lieben! Nicht das liebe ich, was Du bist, nicht das, was Du warst, aber Deine Möglichkeit liebe ich, die Gnade, die immer hell über dir schwebt, das Abenteuer, heute Dir anzugehören.» Die Schweiz ist ein Land voller Potenzial. Was nicht ist, kann werden. Dafür bin ich sehr dankbar.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger

Freiheit, Möglichkeiten und Chancen sind nichts wert, wenn wir sie nicht nutzen. Wir müssen uns engagieren: Bei Wahlen und Abstimmungen, in der Zivilgesellschaft und in Vereinen, im Quartier, im Dorf und in der Gemeinde. Wir müssen machen. Nicht die Faust im Sack, sondern selber – mitmachen. Besser machen, was einen stört. Chancen nutzen und schaffen.

So, wie die ehemaligen Verdingkinder. Oder so wie die Frauen, die viel zu lange um ihre demokratischen Rechte kämpfen mussten. Auch ein Fehler, der dank hartnäckigstem Engagement korrigiert wurde. «Wehrt euch, bevor ihr frustriert und hässig seid!», hatte Lilian Uchtenhagen ihren Mitstreiterinnen nach ihrer Nicht-Wahl als Bundesrätin zugerufen.

Etwas wagen! Auch Neues, das gehört zu unserer Tradition. Frei nach Mani Matter: «Was unsere Väter und Mütter schufen war, da sie es schufen, neu. Bleiben wir später den Vätern und Müttern treu: Schaffen wir neu!». Frei nach Mani Matter, weil ich noch die Mütter eingebaut habe. Denn die habe ich immer als besonders mutig erlebt.

Ja, manchmal wünschte ich mir, dass wir etwas mutiger und selbstbewusster wären. Aber nur weil man sich engagiert, ändert sich natürlich nicht sofort alles. Es braucht Ausdauer, wie das Sägen eines dicken Balkens mit einem Sackmesser. Und, zusammen sägt es sich leichter. Unsere Demokratie ist nämlich so ausgestaltet, dass es nur zusammen geht. In der Schweiz wird Macht geteilt, bis fast nichts mehr übrigbleibt. Es ist so etwas wie politische Homöopathie. Auch im Bundesrat. Wir Sieben müssen zusammenzuarbeiten, um voranzukommen.

Das ist gut so, es ist Teil unserer DNA. In der Schweiz werden Wälder, Weiden und Gewässer seit Jahrhunderten gemeinschaftlich genutzt. Allmenden, Kooperationen, Genossenschaften – aus diesem Kern ist die Schweiz gewachsen. Heute ist der Kompromiss für viele fast ein Schimpfwort. Aber eigentlich ist er die Essenz der Schweiz. Das Ringen um Lösungen, das Aufeinanderzugehen, die Suche nach dem Konsens, das Betonen des Gemeinsamen – das macht die Schweiz aus. Es bringt uns voran. Vielleicht nicht schnell, aber dafür stetig.

Die Suche nach dem Kompromiss zwingt uns, empathisch zu sein. Ich muss mich immer fragen, ob der Mensch vis-à-vis vielleicht – auch – recht hat. So merken wir, dass die Wahrheit oft irgendwo dazwischen liegt und dass jemand, der eine andere Meinung hat, deswegen kein schlechter Mensch ist. Niemand hat immer recht. Und wer die Arena schaut sollte nicht vergessen, dass am Schluss, wenn die Kamera aus ist, alle noch ein Bier zusammen trinken. Diese politische Kultur ist wertvoll. Mir ist es wichtig, dass wir dazu mehr Sorge tragen.

Liebe Gleich- und Andersdenkende

Das alles ist für mich Heimat. Ein Gefühl, das man dort spürt, wo man sich wohlfühlt. Dort, wo man frei ist, wo man Möglichkeiten und Chancen hat, wo man seine Meinung sagen und teilhaben kann. Dort, wo man sich engagiert und nicht allein ist. Dabei ist es egal, ob man hier geboren ist oder anderswo. Denn zu dem, was die Schweiz ist und bietet, haben auch ganz viele Zugewanderte beigetragen. Mit ihrem Schweiss, ihrer Geschichte und ihrer Arbeit.

Feiern wir unsere Demokratie und die Möglichkeiten, die sie uns gibt. Unseren Mut, Neues zu wagen. Feiern wir das Miteinander und unsere Heimat!

Ich wünsche Ihnen einen schönen, mutigen, optimistischen und freien 1. August!


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