150 Jahre Verfassungsrevision von 1874 – Einige Gedanken zu unseren Volksrechten

Kesswil, 31.07.2024 - Rede von Bundesrat Albert Rösti, Bundesfeier 2024

(Es gilt das gesprochene Wort)

 

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
liebe Schweizerinnen und Schweizer!

Am Schluss des Bundesbriefes steht: «Geschehen im Jahre des Herrn 1291 zu Anfang des Monats August.»

Darum sind wir heute hier. Wir feiern heute den Geburtstag der Schweiz.
Anfang August 1291 wurde das Dokument unterzeichnet, das am Beginn unserer Unabhängigkeit steht. Und auch am Beginn einer langen Entwicklung – einer Entwicklung in vielen Schritten hin zum modernen, direktdemokratischen Rechtsstaat von heute.

Einen der ganz wichtigen Schritte tat die Schweiz vor 150 Jahren. Darum können wir heute nicht nur den Anfängen der Schweiz gedenken, sondern auch ein Jubiläum unserer Volksrechte feiern.

Vor 150 Jahren revidierte die Schweiz ihre Verfassung. 1874 kam ein ganz wichtiges Element hinzu: Das fakultative Referendum.

Das obligatorische Referendum galt seit 1848 für alle Revisionen der Bundesverfassung. Mit dem fakultativen Referendum aber können die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger verlangen, dass Gesetze dem Volk zur Abstimmung unterbreitet werden.

Ich muss hier etwas ausholen, damit wir die Bedeutung dieses Schrittes besser einordnen können: Schon die Verfassung von 1848 war eine Sensation der Freiheit. Stellen Sie sich vor: Da herrschen in Europa überall Fürsten und Könige; Frankreich ist ein Königreich, Österreich-Ungarn ein Kaiserreich, das bis in den Balkan und die heutige Ukraine reicht. Deutschland und Italien bestehen aus verschiedenen Monarchien, da gibt es das Königreich Bayern, das Königreich Württemberg und das Grossherzogtum Baden usw. Oder das Grossherzogtum Toskana, das Königreich Sardinien-Piemont und das Königreich beider Sizilien usf. Und auch in den anderen Ländern in Europa herrschen gekrönte Häupter.

Für eine kurze Zeit sieht es damals so aus, als würde sich das alles ändern, als gäbe es einen Umbruch, einen Aufbruch: Liberale Revolten und Revolutionen brechen aus, von Paris bis nach Budapest. Aber die Herrscher lassen ihre Soldaten aufmarschieren, lassen die Proteste zusammenschiessen.

Und so ebbt die Welle ab, die Rufe nach Freiheit verstummen – und die Monarchen sitzen wieder fest im Sattel. Es bleibt, wie es immer war.

Nur nicht bei uns.

Die Schweiz als Exot der Freiheit

Inmitten dieses Kontinents von Monarchien und Dynastien – da ist die Schweiz. Und die Schweiz schreibt Rechte in ihre Verfassung, die andere so nicht kennen, wie zum Beispiel, dass es eine Pressefreiheit gibt, dass es eine Vereinsfreiheit gibt, dass es ein Petitionsrecht gibt. Während in den andern Ländern die Macht zentralisiert ist, macht die Schweiz das Gegenteil. Sie verankert den Föderalismus und die starke Stellung der Kantone in der Verfassung. Sie wählt ein System mit zwei Kammern, um ein besseres Gleichgewicht zu erreichen. Sie will kein Staatsoberhaupt, keinen «Landamman der Schweiz», wie das einmal kurz diskutiert wurde; nein, sie teilt die Macht auf sieben Bundesräte auf und der Bundespräsident ist nur «primus inter pares», also der Erste und Gleichwertigen. Man unternimmt alles, um Machtkonzentrationen zu verhindern und um die Freiheit zu sichern. Machtteilung, Machtbrechung – das ist unser staatspolitisches Leitmotiv.

Natürlich sind wir damit die totalen Exoten in Europa. Man blickt auf uns mit Verwunderung – und oft auch Bewunderung. Dies kann für Irritationen sorgen; wir passen damit schlecht in ein allgemeines Weltbild. Und vor allem: Wir zeigen, dass eine freiheitliche Ordnung, dass ein Zusammenleben in Freiheit möglich ist.

Für die Schweiz ist es nicht immer einfach, ein Fremdkörper in Europa zu sein. Immer wieder kommt sie unter Druck. Unsere Vorfahren hätten unter solchen Umständen auf die Idee kommen können, dass der Sonderfall etwas gar sonderbar sei und dass man sich den andern anpassen müsse; dass man unser Recht den andern angleichen, dass man es «harmonisieren» solle.

Zum Glück taten sie das nicht. Zum Glück machten sie das Gegenteil. Sie gingen unbeirrt ihren Weg. Sie bauten die Volksrechte aus, festigten die Freiheit. Wie eben vor 150 Jahren. Als sie mit der Einführung des fakultativen Referendums einen weiteren konsequenten und folgerichtigen Schritt taten.

Die Bremse …

Das ist nicht nur für Juristen und Historiker interessant. Sondern für jeden Stimmbürger: Das Volk wählt bei uns nicht nur Parlamentarier, wie in anderen Ländern; es wählt nicht nur alle vier Jahre seine National- und Ständeräte. Die Bürger entscheiden in Sachfragen. Sie werden so zum obersten Gesetzgeber. Und das ist stimmig. Denn die Bürger sind die höchste Instanz im Land. Die Bürger sind der Souverän. Es ist darum logisch, dass sie das Recht, Gesetze zu erlassen oder zu ändern, nicht einfach an ihre Vertreter in Bern delegieren. Mit dem Referendum behalten sie das letzte Wort. Die Bürger können auf die Bremse treten, wenn ihnen etwas nicht passt. Mit dem Referendum sagen sie: «Halt, so nicht! Zurück an den Absender!»

… das Gaspedal …

Das Referendum als Bremse war ein riesengrosser Fortschritt. Aber das Referendum ist nur ein Teil der Direkten Demokratie. Es brauchte noch einen weiteren Schritt. Dieser kam 1891 mit der Initiative, dem Recht, per Unterschriftensammlung eine Abstimmung über eine teilweise Revision der Verfassung zu erwirken. Damit erhielten die Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit, ihre Anliegen direkt einzubringen und rechtsverbindlich zu verwirklichen. Nebst der Bremse erhielten wir so noch ein Gaspedal. Wenn wir der Meinung sind, in einer wichtigen Frage passiere nichts, dann können wir mit einer Volksinitiative in die gewünschte Richtung Gas geben.

In der Schweiz fanden seit 1848 auf Bundesebene 692 Volksabstimmungen statt, wir sind damit das Volk, das mit grossem Abstand weltweit am meisten abstimmen kann. 

Zum Vergleich: In Frankreich sind es seit 1793 – das ist also noch mehr als ein halbes Jahrhundert länger – gerade mal 32. Und in dieser Zahl sind nationale Plebiszite mitgerechnet, wie beispielsweise jenes von 1802, mit dem sich Napoleon zum Konsul auf Lebzeiten und jenes von 1804, mit dem er sich zum Kaiser der Franzosen wählen liess. Also nicht exakt unsere Vorstellung von einer demokratischen Volksabstimmung. Italien kommt auf 98 seit 1797, darunter auch die «Abstimmung» vom Mai 1929, mit welcher Mussolini sein Regime mit faschistischen Einheitslisten bestätigen liess, also kein demokratischer Entscheid, sondern eine Inszenierung.  In Deutschland sind es zehn, in Österreich 8, wobei die Abstimmung von 1938 über den Anschluss ans Deutsche Reich nicht unter freien und fairen Bedingungen stattfand.

Wir stimmen also in einem einzigen Jahr mehr ab als die Bürger anderer Länder in ihrem ganzen Leben.

Übrigens, wenn wir die Abstimmungen auf kommunaler und kantonaler Ebene dazu nehmen, werden die Unterschiede noch grösser. Das Zentrum für Direkte Demokratie in Aarau zählt gegen die 7'000 kantonale Abstimmungen seit 1848. 

Das zeigt uns, dass die Schweiz ein Sonderfall ist. Ein demokratischer Sonderfall. Ein Sonderfall der Freiheit.

… und ein Ventil

Wir haben eine Bremse und ein Gaspedal – die Direkte Demokratie hat aber noch eine weitere Funktion: Sie wirkt als Ventil. Dank der Direkten Demokratie wurde die Schweiz zu einem der stabilsten Länder weltweit. Volksabstimmungen kanalisieren Unmut und dämpfen Spannungen.

Anderswo gehen die Leute auf die Strasse, bei uns können die Bürger Unterschriften sammeln, bei uns können sie an der Urne entscheiden.

Man braucht nicht auf ferne Länder zu schauen, um Explosionen des Volkszorns zu sehen. Streiks und heftige Proteste gibt es oft schon jenseits der Grenze, denken wir beispielsweise an die Gelbwestenproteste 2018 / 2019.

Die Schweiz hat eine institutionelle Lösung gefunden, um den Ausgleich zu fördern. Es war eine kluge Antwort auf Spannungen, die damals bei uns herrschten:

Die raschen Veränderungen mit Industrialisierung und Wirtschaftsboom hatten zu Spannungen geführt. Vor allem die ländliche und kleinstädtische Bevölkerung fühlte sich an den Rand gedrückt. Es formte sich in den 1860-Jahren die sogenannte Demokratische Bewegung, die unter anderem eine direktdemokratische Revision der Verfassung verlangte.  Dieser Erfolg der Bewegung war schliesslich auch ein Erfolg für die Schweiz: So entstand ein Ventil für Unzufriedenheit; die Direkte Demokratie verwandelt Ärger und Wut in politische Beteiligung. Das ist das Fundament unserer mittlerweile weltberühmten Stabilität.

Direkte Demokratie als Grundlage unseres Erfolges

Am Ersten August freuen wir uns über einen freien Tag. Über geselliges und fröhliches Beisammensein an den vielen tollen Feiern im ganzen Land. Über eine Bratwurst vom Grill, über Lampions und über Feuerwerk.

Aber es darf am Ersten August auch einen Augenblick geben, wo wir etwas nachdenklicher sind – wie das so ist an einem Geburtstag: Man schaut zurück, man schaut auf den Weg, den man gegangen ist und man blickt nach vorne, überlegt sich, wie es weitergehen soll.

Darum ist das Jubiläum der Verfassungsrevision von 1874 mehr als einfach nur eine runde Zahl. Es ist eine Erinnerung an die Schritte auf unserem Weg, der zu dem sorgfältig austarierten System führte, das wir heute haben. Zu dieser Ordnung, die uns so viel Freiheit und Mitbestimmung gibt, wie sonst nirgendwo auf der Welt. Zu dieser Ordnung, welche die Grundlage ist für unseren grossen Erfolg und unseren grossen Wohlstand. Stellen Sie sich nur vor, was unser kleines Land alles erreicht hat:

Die Schweiz gehört zu den wettbewerbsfähigsten Ländern der Welt. Im jährlichen Ranking liegt unser Land regelmässig auf den Spitzenplätzen; dieses Jahr auf Platz zwei hinter Singapur.  Die Wirtschaftsleistung pro Kopf gehört zu den höchsten weltweit.  Die OECD, die einen sogenannten «Better life Index» ermittelt, zeigt die Schweiz bei ihren verschiedenen Messgrössen der Lebensqualität weit vorne: Das Einkommen, das einem Haushalt zur Verfügung steht, das Vermögen, das sich jemand ansparen kann, das Bildungsniveau, die Lebenserwartung und auch die durch Umfragen erhobene Lebenszufriedenheit.  Und als UVEK-Vorsteher ist mir natürlich auch wichtig zu betonen: Wir haben eine erstklassige Infrastruktur.

Fazit

Ich meine, wir können daraus zwei Punkte mitnehmen:

Erstens: Mit unserer gewachsenen, sorgfältig austarierten Ordnung muss man behutsam umgehen. Es erträgt keine Hauruck-Übungen, es lässt sich nichts übers Bein brechen – und das ist auch gut so. Ich bin ja gerade in meinen Arbeitsfeldern im UVEK auch damit konfrontiert, dass ich zum Beispiel bei der Energie schnell vorwärts machen muss, einfach deshalb, weil wir dringend mehr davon brauchen. Aber ich weiss – und ich spüre das immer wieder im Austausch mit der Bevölkerung –, dass man die Bürgerinnen und Bürger mitnehmen muss und dass es auf die Dauer nicht gut kommt, wenn bei ihnen der Eindruck entsteht, dass ihre Rechte beschnitten werden. Je wichtiger die Frage, desto sensibler reagiert verständlicherweise die Bevölkerung. So sind auch bei den aktuellen Verhandlungen mit der EU die Volksrechte zu achten.   

Ich möchte – zweitens – schliessen mit einem Lob der direktdemokratischen Verantwortung. Wir haben eine hervorragende Staatsordnung, ich meine, es ist die beste der Welt. Aber wir haben auch eine anspruchsvolle Staatsordnung. Sie verlangt uns einiges ab. Wir brauchen Bürgerinnen und Bürger, die sich engagieren, die mitmachen, die Verantwortung übernehmen, die das Ganze, das Gesamtwohl im Auge haben und nicht die kurzfristige und kurzsichtige Selbstoptimierung.

In diesem Sinne ist der Erste August auch ein Tag, an dem man den Bürgerinnen und Bürgern einen Dank aussprechen soll, dass Sie als Souverän dieses Land insgesamt mit grossem Erfolg durch nicht immer nur einfache Zeiten führen. 

In diesem Sinne: Herzlichen Dank für Ihren Einsatz für unsere Schweiz! Ich wünsche Ihnen allen eine schöne Bundesfeier!


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