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CONFOEDERATIO HELVETICA
Die Bundesbehörden der Schweizerischen Eidgenossenschaft

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Erklärung des Bundesrates zum Eizenstat-Bericht

Erklärung des Bundesrates zum Eizenstat-Bericht

1. Gesamtwürdigung des Berichts

Am 7. Mai 1997 veröffentlichten die amerikanischen Behörden den
Eizenstat-Bericht über die Finanztransaktionen des Naziregimes. Am
selben Tag gab der Bundesrat eine erste Stellungnahme ab. Weil dem
Bundesrat leider nur unzulängliche Möglichkeiten zu Einsichtnahme und
Abstimmung eingeräumt wurden, war die Stellungnahme notwendigerweise
bloss vorläufiger Natur.

Nach eingehender Durchsicht kommt der Bundesrat zum Schluss, dass der
Eizenstat-Bericht zusätzliche Elemente zur Beurteilung des Verhaltens
der Schweiz, der anderen Neutralen sowie der Vereinigten Staaten selber
im und nach dem Zweiten Weltkrieg liefert. Die amerikanische Verwaltung
würdigt die grossen Anstrengungen der Schweiz zur Aufarbeitung ihrer
Geschichte positiv. Im Wissen um die grossen Verdienste der Vereinigten
Staaten um die Befreiung Europas und um die von diesem Land erbrachten
Opfer, aber auch im Wissen um die unsagbaren Leiden der Opfer des
Holocaust möchte die Schweiz diese Aufarbeitung gemeinsam mit den USA
und anderen Ländern weiter vorantreiben. Unter Freunden ist es aber
auch eine Selbstverständlichkeit, Unterschiede der Beurteilung offen zu
diskutieren. Es ist dem Bundesrat deshalb ein Anliegen, seiner
kritischen Haltung zu Aussagen im Vorwort des Berichts Ausdruck zu
geben.
Der Bericht als solcher enthält zahlreiche, bisher nicht in
Publikationen zugängliche Informationen aus amerikanischen Quellen, die
von grossem Interesse sind. Dabei bestätigt und ergänzt er im
wesentlichen bisher vorliegende Erkenntnisse. Die Auswertung steht der
unabhängigen Expertenkommission Bergier und der freien
Geschichtsforschung zu. Der Bundesrat ist überzeugt, dass der Bericht
damit zum besseren Verständnis des Verhaltens der einzelnen Länder in
jener Zeit beiträgt. Er reiht sich in bereits vorliegende historische
Arbeiten ein, die teilweise nicht die ihnen zukommende politische
Beachtung fanden. Zu denken ist beispielsweise an den Bericht Ludwig
zur Flüchtlingspolitik, den Bonjour-Bericht zur Neutralitätspolitik
oder Arbeiten zum Thema Goldhandel. Wie wiederholt in Wort und Tat
bekräftigt, will der Bundesrat alles tun, um die weitere Erforschung
unserer Geschichte während des Zweiten Weltkriegs zu fördern. Diese
Erforschung ist nicht nur eine Frage historischen Interesses, sondern
bringt die Bereitschaft zum Ausdruck,  sich auch den Schattenseiten der
jüngeren schweizerischen Geschichte zu stellen.

2. Vorbehalte zum Vorwort

Kritisch stellt sich der Bundesrat hingegen zum Vorwort. Es enthält
auch politische und moralische Wertungen, welche über den historischen
Bericht hinausgehen. Sie bedürfen der Klarstellung.

2.1. Harte Verhandlungsführung in der Nachkriegszeit

Die härteste Kritik betrifft das Verhalten der Schweiz in der
Nachkriegszeit. Es handelt sich um ein Kapitel der Geschichte, das den
Bundesrat besonders beschäftigt und dem er seine ganze Aufmerksamkeit
widmen will. Es geht um die Frage, ob das damalige Verhalten der
Schweiz der Lage im zerstörten Europa und den Entbehrungen der
kriegsversehrten Völker in moralischer und materieller Hinsicht
angemessen war. Die Ergebnisse der verschiedenen Verhandlungen sind
bekannt; die Hintergründe und Interessenlagen der verschiedenen
Parteien bedürfen einer vertieften historischen Abklärung.

Hier hält der Bundesrat fest: Beim Abschluss des Washingtoner Abkommens
im Jahr 1946 waren den Vertragsparteien alle wesentlichen Fakten
bekannt.  Die Alliierten verfügten dank nachrichtendienstlicher Quellen
sogar über genaue Kenntnisse der schweizerischen Verhandlungsposition.
Bezüglich der Umsetzung des Abkommens bescheinigt der Bericht, dass die
Schweiz in der Goldfrage die vereinbarte Ablösesumme im damaligen Wert
von Sfr. 250 Mio. bezahlt hat.

Kritischer müssen wir aus heutiger Sicht die Liquidierung der deutschen
Guthaben beurteilen. Bei der Lektüre entsteht der Eindruck eines
Landes, das die Bedürfnisse eines kriegszerstörten Europas nicht
nachempfinden konnte oder wollte. Immerhin ist auch der Ablösevertrag
von 1952 Ergebnis eines Kompromisses, auf welchen sich die Partner aus
wirtschaftlichen und politischen Gründen geeinigt hatten. Der
Wiederaufbau Westdeutschlands wurde vor dem Hintergrund des Kalten
Krieges vordringlich, worauf auch der Bericht deutlich hinweist. Es
wird Aufgabe der Historiker sein, umfassend zu beurteilen, ob das
schweizerische Vorgehen einen allzu engen legalistischen Ansatz
verfolgte, oder ob es auf nachvollziehbaren Schwierigkeiten und völker-
und landesrechtlichen Prinzipien beruhte. Zu den besonders umstrittenen
Fragen gehörte damals die Konfiskation deutschen Vermögens in der
Schweiz. Während die USA ein entschädigungsloses Vorgehen vorsahen,
verlangte die Schweiz aus rechtsstaatlichen Gründen angemessene
Kompensation für die Eigentümer.

Während und nach dem Krieg bewies die Schweiz auch ihr humanitäres
Engagement. Wichtiges Beispiel ist die im Bericht nicht erwähnte
"Schweizer Spende an die Kriegsgeschädigten" im damaligen Wert von über
Sfr. 200 Mio. Sie war das Ergebnis einer gemeinsamen Anstrengung von
Behörden und Bevölkerung als Ausdruck der Solidarität mit den Opfern
des Kriegs.

2.2. Vorwurf wirtschaftlichen Profits

Das Vorwort wirft der Schweiz auch vor, sie habe wirtschaftlich vom
Zweiten Weltkrieg profitiert. Dass die Schweiz sowohl mit den
Achsenmächten als auch den Alliierten Handel betrieb, war eine Frage
des politischen und wirtschaftlichen Ueberlebens des Landes. Es trifft
aber zu, dass die schweizerische Wirtschaft im Verkehr mit der Achse
und den Alliierten auch ihre eigenen Interessen verfolgt hatte. Dabei
gab es auch fragwürdige Geschäfte, von denen das Ueberleben der Schweiz
nicht abhing. Nur Hypothesen sind zur Frage möglich, ob die Schweiz
1943/44 in der Lage gewesen wäre, ihre Wirtschaftsbeziehungen mit den
Achsenmächten abzubrechen ohne das Risiko eines Angriffs zu
provozieren. Dasselbe gilt für die Frage der  versorgungspolitischen
Alternativen. Der Hinweis, dass die Schweiz als eine der reichsten
Nationen Europas aus dem Krieg hervorgegangen sei, wirft Fragen nach
Ausgangslage und möglichen Gründen auf, welche der eingehenden
Abklärung bedürfen. Diese fehlt im Bericht. Dabei ist auch zu
berücksichtigen, dass die Schweiz  eines der wenigen Länder  Europas
war, dessen wirtschaftliche Basis nach dem Krieg nicht zerstört war.

Die Schweiz als Bankier der Nazis darzustellen, erachtet der Bundesrat
als einseitiges Pauschalurteil. Berechtigt ist indes die Kritik an
bekannten bedenklichen Finanztransaktionen. Eine umfassendere Analyse
wird aber auch unschwer aufzeigen können, dass der Finanzplatz bzw. die
Nationalbank nicht erst mit Deutschland enge Beziehungen pflegte,
nachdem die Nazis die Macht ergriffen hatten. Der Nachbar Deutschland
war seit jeher und ist heute noch ein Wirtschaftspartner von
überragender Bedeutung. Zudem waren dieselben Beziehungen zu den
Alliierten aus ähnlichen Gründen sehr intensiv.

2.3. Frage der Kriegsverlängerung

Im Vorwort wird angedeutet, dass die neutralen Staaten durch ihren
Handel mit dem Dritten Reich dessen Fähigkeit zur Kriegführung
verlängert hätten. Mindestens aufgrund des vorliegenden Berichts muss
diese Aussage als unbegründet bezeichnet werden. Eine solche Aussage
wäre - wenn überhaupt - nur dann möglich, wenn sie sich auf eine
umfassende Untersuchung der deutschen Kriegswirtschaft, der
gegenseitigen Abhängigkeiten sowie der Wirtschaftsbeziehungen mit den
Alliierten abstützen könnte. Eine solche Untersuchung liegt nicht vor.
Auch ist nicht evident, dass die schwierige Lage der Schweiz sich mit
der Kriegswende 1943 massgeblich entspannt hätte.

2.4. Neutralität und Moral

Nicht historischer, sondern eindeutig politischer Natur sind auch die
im Vorwort enthaltenen Aussagen über die Bedeutung der Neutralität im
Zweiten Weltkrieg. Es wird behauptet, dass damals Neutralität und Moral
im Widerspruch standen. Hinter der Kritik steht die Auffassung, dass
Neutralität zwischen Staaten, die für das Gute einstehen, und Staaten,
die das Schlechte verkörpern, unmoralisch sei.  Für die Schweiz hatte
jedoch die Neutralität seit Jahrhunderten eine staatstragende Funktion.
Die vom Bundesrat im Zweiten Weltkrieg verfolgte Neutralitätspolitik
hatte zum zentralen Ziel, die Schweiz aus dem Krieg herauszuhalten und
ihre Bevölkerung vor Vernichtung und Vertreibung durch die Nazis zu
bewahren. Eine schlagkräftige Armee war dazu ein unentbehrliches
Mittel. Damit konnte die Schweiz auch Zehntausenden von Flüchtlingen
Zuflucht bieten und Oase von Demokratie und Freiheit in einem
totalitären Europa bleiben. Hätte die Schweiz dieses Ziel besser
erreicht, indem sie militärisch Partei zugunsten der Alliierten
ergriffen hätte ? Alle heutigen Erkenntnisse sprechen dagegen. Zudem
verstand das Schweizer Volk die Neutralität nie als Gleichgültigkeit
der Gesinnung. Dies zeigte sich am besten in den Berichten und
Kommentaren der damaligen Medien. Sie brachten die gegen die Nazis
gerichtete Haltung eines überwiegenden Teils der Bevölkerung mutig zum
Ausdruck. Die Stimmen der Kommentatoren Jean-Rodolphe von Salis und
René Payot fanden wegen ihrer Unabhängigkeit in ganz Europa Widerhall.

Insgesamt gesehen führte die Neutralität zu einer schwierigen
Gratwanderung zwischen Anpassung und Widerstand. Heute wissen wir, dass
es auch zu Fehlern kam. Unentschuldbar ist die kleinmütige
Flüchtlingspolitik gegenüber den Juden.  Im wirtschaftlichen und
finanziellen Bereich wurden zum Teil Zugeständnisse gegenüber den
Achsenmächten gemacht, die angesichts der inneren Ueberzeugungen der
Bevölkerung und gemessen am unbedingt Notwendigen heute kaum
nachvollziehbar sind.

Es darf nicht vergessen werden, dass die neutrale Haltung der Schweiz
auch im Interesse der Alliierten lag.  In ihrem Auftrag nahm die
Schweiz zahlreiche Schutzmandate wahr, um ihre Interessen in
gegnerischen Staaten zu wahren. Mit Besuchen von Kriegsgefangenenlagern
in Deutschland und Japan sowie mit der Betreuung von zivilen
Internierten in der Schweiz konnte sie dank ihrer Neutralität
humanitäre Aufgaben in grossem Umfang übernehmen.

3. Heutige Anstrengungen der Schweiz

Abschliessend hält der Bundesrat fest, dass Unvoreingenommenheit auf
allen Seiten die Voraussetzung dafür bildet, dass die Erforschung eines
schwierigen historischen Kapitels gelingt und von der Bevölkerung
mitgetragen wird. Der Bundesrat hat sich stets für vorbehaltlose
Offenheit in der weiteren Erhellung unserer Vergangenheit eingesetzt.
Zu diesem Zweck hat er die unabhängige, aus internationalen Fachleuten
zusammengesetzte Kommission unter der Leitung von Professor Bergier
eingesetzt, nachdem das Parlament rasch und einstimmig die gesetzlichen
Grundlagen dazu erlassen hatte. Diese Kommission hat Zugang zu
sämtlichen ihr relevant scheinenden Dokumenten; für ihre Untersuchungen
hat sie auch zu Unterlagen Zugang, die normalerweise dem Bankgeheimnis
unterliegen. Auch unternimmt das von der Schweizerischen
Bankiervereinigung und den internationalen jüdischen Organisationen
eingesetzte Volcker-Komitee intensive Abklärungen zu allenfalls noch
bestehenden finanziellen Ansprüchen gegenüber Schweizer Banken. Des
weiteren hat der Bundesrat die Bereitschaft der Schweiz bekundet, an
einer internationalen Konferenz von Historikern und anderen Experten
mitzuwirken. Er hat darüber hinaus die Schaffung eines Spezialfonds
beschlossen, um rasch den überlebenden Opfern des Holocaust Hilfe
zukommen zu lassen. Neben den Grossbanken beteiligen sich weitere
Wirtschaftskreise an diesem Fonds. Der Bundesrat unterstützt die
Absicht der Nationalbank, ebenfalls einen namhaften Beitrag zu leisten.

Die Schweiz verbindet seit jeher Neutralität mit Humanität und
Solidarität. Mit der geplanten, selbstbestimmten Schweizerischen
Solidaritätsstiftung soll darüber hinaus zum Ausdruck gebracht werden,
dass die Schweiz vom Willen beseelt ist, in Zukunft ihr humanitäres
Engagement noch zu verstärken.

Der Bericht hebt die heute führende Rolle der Schweiz bei der
Aufarbeitung und Bewältigung ihrer Geschichte hervor. In diesem Sinne
nimmt der Bundesrat gerne das Angebot zu Dialog und gemeinsamer
Zusammenarbeit an, das der amerikanische Präsident kürzlich
ausgesprochen hat, als der neu ernannte schweizerische Botschafter sein
Beglaubigungsschreiben übergab. Für uns werden dabei drei Grundsätze
weiterhin wegleitend sein: Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und
Solidarität.

Bern, 22.05.1997